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Störenfriede.


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Informationen zum Buch
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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Störenfriede. Max Ernst sah als Kriterium dafür, ob »ein Künstler verloren sei«, dass er sich nicht gefunden haben dürfe. Protagonisten, die die Kunst gerade dadurch voranbrachten, dass sie sich nicht gefunden hatten, waren die Avantgardisten. Im Gegenteil: Ist es doch gerade Teil ihrer Selbstdefinition, im Rimbaudischen Sinne suchend zu bleiben. Eine bemerkenswerte Ausstellung im Lentos Kunstmuseum Linz hat 2008 einige der bedeutendsten Avantgardisten Österreichs präsentiert. Man mag einwenden, die Avantgarde sei ein gesamt-europäisches Phänomen - mindestens. Die Beschränkung der Ausstellung auf Österreich ist sinnvoll, kann eine Schau in dem kleinen Land doch aus den Vollen schöpfen: Die österreichische Avantgarde, insbesondere der Wiener Aktionismus, spielten innerhalb dieser Kunstrichtung neben der Russischen Avantgarde und dem italienischen Futurismus eine herausragende Rolle. Neben ihrer permanenten Selbst- und Rollen-Suche kann man Avantgardisten erkennen an ihrer (scheinbar) wechselhaften Biographie. Pars pro toto ist Oswald Wiener. 1968 beteiligte er sich an der Simultanaktion »Kunst und Revolution« an der Universität Wien. Otto Mühl las ein Pamphlet über die Kennedy-Familie vor, Peter Weibel einen aktionistischen Text über den österreichischen Finanzminister Koren, Franz Kaltenbäck sprach über »Information und Sprache«. Oswald Wiener hielt einen Vortrag zur »Input-Output-Relation zwischen Sprache und Denken«. Ein Jahr später veröffentlichte Wiener mit dem Roman »die verbesserung von mitteleuropa« ein sogenanntes Schlüsselwerk der österreichischen Nachkriegsliteratur. Im künstlerisch-geistigen Gehalt auf der Augenhöhe von Charles Baudelaire, verfasste Wiener Anfang der 1980er Jahre einen Basistext zum Dandytum, in dem er sich auch selbst suchte: Der Dandy »hat verstanden, dass seine ergriffenheiten internen gesetzmässigkeiten folgen und ihm demnach vorgezwungen sind. Entdeckt die mechanik immer grösserer teile dessen, das er für seine freiheit gehalten hat, bis hin zum apparat der verzweiflung. WO IST ICH?« Die Ausstellung wurde begleitet von einem fulminanten Katalog, der die gezeigten Werke vollständig präsentiert. Der Bogen reicht vom Fin de Siècle bis zum Aktionismus 1968. Ausstellung und Katalogbuch vermitteln ein Gefühl für das Wirken von Kunst. Bei der Avantgarde sind die Reaktionen stets direkter Bestandteil der künstlerischen Aktion selbst. Bei genauerem Hinsehen ist die Avantgarde allerdings nicht so weit entfernt von anderer Kunst, die diesen Titel nicht verpasst bekommen hat, kann Kunst ohne Kommunikation mit ihrem Umfeld gar nicht stattfinden. Der längst in den Kanon der großen Künstler eingezogene Klimt steht emblematisch für diesen Prozess einer späteren Akzeptanz. Nachdem Klimt Ende des 19. Jahrhunderts beauftragt worden war, für die Wiener Universität drei große Fakultätsbilder anzufertigen, kam es bei deren Präsentation zum Rieseneklat mit dem bürgerlich-gesellschaftlichen Establishment. Die Presse griff den Maler für seine modernen Darstellungen massiv an. Ganze fünf Jahre zog sich die Debatte hin, die damit endete, dass der Maler klein bei gab: Er zahlte die gesamten Vorschüsse zurück und behielt die Gemälde. Irritierend wirkt der Blick auf die Aktionsphotos von Günter Brus. Sein »Wiener Spaziergang« liegt heute 43 Jahre zurück. Die Betrachtung der Schwarz-Weiß-Photos, die das Buch teils ganzseitig dokumentiert, macht den Blick freier auf die Veränderung unserer Seh-Gewohnheiten seit ihrer Entstehung. Brus tünchte sich komplett weiß, mit weißem Anzug, weißem Gesicht und weißen Haaren. Auf ihm verlief eine schwarze Pinselspur – vom Scheitel bis zu den Füßen. Die Polizei hielt ihn fest und verhängte eine Geldbuße. Auch dies ist in einem süffisanten Bild festgehalten. Der kongenial-ästhetisch gestaltete Katalog aus dem Wiener Christian Brandstätter Verlag wird ergänzt durch vier Textbeiträge, sie auf intelligente Weise Leuchtfackeln in diesem nicht so einfachen Themenkomplex »Avantgarde«. Sabine Fellner, von der das Ausstellungskonzept stammt, erläutert in neun kurzen Kapiteln die beispielhaft ausgewählten Künstler in ihren Wirkungs-Zeiten. Instruktiv wird die Bedeutung von provokativer Kunst deutlich, liest man zu welcher Reaktion sich ein Teil des Publikums und der Öffentlichkeit jeweils gezwungen sah. Auch die Funktion der Medien bei der Erzeugung von Stimmungen bereits vor hundert Jahren ist retrospektiv erhellend. Herbert Lachmayer erläutert so kurz wie prägnant, dass es sich bei den Avantgardisten eigentlich primär um individuelle Lebensentwurf-Künstler handelte. Der Hass, der ihnen zum Teil in der Kritik entgegenschlug, ist nicht von ihnen ausgegangen. Abgerundet wird der großformatige Band durch eine Schilderung des Verhältnisses des Rechtes zur Kunst, das durch eine deutliche Erhöhung der Toleranz in den vergangenen Jahrzehnten gekennzeichnet ist. Die präsentierten Künstler waren Störenfriede. Sie dienten dazu, dass die Gesellschaft sich abgrenzen konnte. Sie konnte Grenzen ziehen, sie wurde in die Lage versetzt sich zu definieren. Dazu dienten Störenfriede, Exzentriker, Dandys, Punks zu allen Zeiten: Sie erweisen dem Gemeinwesen einen ungeheuren Dienst. Durch den Katalog wird die herausragende Funktion des provozierenden Elementes in der Kunst sichtbar gemacht. Das Buch ist somit wesentlich mehr als ein Begleiter der Ausstellung. Seine Bedeutung als kleines Vademecum der österreichischen Avantgarde bleibt bestehen - auch nach Ablauf der Linzer Ausstellung.

Max Ernst sah als Kriterium dafür, ob »ein Künstler verloren sei«, dass er sich nicht gefunden haben dürfe. Protagonisten, die die Kunst gerade dadurch voranbrachten, dass sie sich nicht gefunden hatten, waren die Avantgardisten. Im Gegenteil: Ist es doch gerade Teil ihrer Selbstdefinition, im Rimbaudischen Sinne suchend zu bleiben.

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Eine bemerkenswerte Ausstellung im Lentos Kunstmuseum Linz hat 2008 einige der bedeutendsten Avantgardisten Österreichs präsentiert. Man mag einwenden, die Avantgarde sei ein gesamt-europäisches Phänomen - mindestens. Die Beschränkung der Ausstellung auf Österreich ist sinnvoll, kann eine Schau in dem kleinen Land doch aus den Vollen schöpfen: Die österreichische Avantgarde, insbesondere der Wiener Aktionismus, spielten innerhalb dieser Kunstrichtung neben der Russischen Avantgarde und dem italienischen Futurismus eine herausragende Rolle.

Neben ihrer permanenten Selbst- und Rollen-Suche kann man Avantgardisten erkennen an ihrer (scheinbar) wechselhaften Biographie. Pars pro toto ist Oswald Wiener. 1968 beteiligte er sich an der Simultanaktion »Kunst und Revolution« an der Universität Wien. Otto Mühl las ein Pamphlet über die Kennedy-Familie vor, Peter Weibel einen aktionistischen Text über den österreichischen Finanzminister Koren, Franz Kaltenbäck sprach über »Information und Sprache«. Oswald Wiener hielt einen Vortrag zur »Input-Output-Relation zwischen Sprache und Denken«. Ein Jahr später veröffentlichte Wiener mit dem Roman »die verbesserung von mitteleuropa« ein sogenanntes Schlüsselwerk der österreichischen Nachkriegsliteratur.

Im künstlerisch-geistigen Gehalt auf der Augenhöhe von Charles Baudelaire, verfasste Wiener Anfang der 1980er Jahre einen Basistext zum Dandytum, in dem er sich auch selbst suchte: Der Dandy »hat verstanden, dass seine ergriffenheiten internen gesetzmässigkeiten folgen und ihm demnach vorgezwungen sind. Entdeckt die mechanik immer grösserer teile dessen, das er für seine freiheit gehalten hat, bis hin zum apparat der verzweiflung. WO IST ICH?«

Die Ausstellung wurde begleitet von einem fulminanten Katalog, der die gezeigten Werke vollständig präsentiert. Der Bogen reicht vom Fin de Siècle bis zum Aktionismus 1968. Ausstellung und Katalogbuch vermitteln ein Gefühl für das Wirken von Kunst. Bei der Avantgarde sind die Reaktionen stets direkter Bestandteil der künstlerischen Aktion selbst. Bei genauerem Hinsehen ist die Avantgarde allerdings nicht so weit entfernt von anderer Kunst, die diesen Titel nicht verpasst bekommen hat, kann Kunst ohne Kommunikation mit ihrem Umfeld gar nicht stattfinden.

Der längst in den Kanon der großen Künstler eingezogene Klimt steht emblematisch für diesen Prozess einer späteren Akzeptanz. Nachdem Klimt Ende des 19. Jahrhunderts beauftragt worden war, für die Wiener Universität drei große Fakultätsbilder anzufertigen, kam es bei deren Präsentation zum Rieseneklat mit dem bürgerlich-gesellschaftlichen Establishment. Die Presse griff den Maler für seine modernen Darstellungen massiv an. Ganze fünf Jahre zog sich die Debatte hin, die damit endete, dass der Maler klein bei gab: Er zahlte die gesamten Vorschüsse zurück und behielt die Gemälde.

Irritierend wirkt der Blick auf die Aktionsphotos von Günter Brus. Sein »Wiener Spaziergang« liegt heute 43 Jahre zurück. Die Betrachtung der Schwarz-Weiß-Photos, die das Buch teils ganzseitig dokumentiert, macht den Blick freier auf die Veränderung unserer Seh-Gewohnheiten seit ihrer Entstehung. Brus tünchte sich komplett weiß, mit weißem Anzug, weißem Gesicht und weißen Haaren. Auf ihm verlief eine schwarze Pinselspur – vom Scheitel bis zu den Füßen. Die Polizei hielt ihn fest und verhängte eine Geldbuße. Auch dies ist in einem süffisanten Bild festgehalten.

Der kongenial-ästhetisch gestaltete Katalog aus dem Wiener Christian Brandstätter Verlag wird ergänzt durch vier Textbeiträge, sie auf intelligente Weise Leuchtfackeln in diesem nicht so einfachen Themenkomplex »Avantgarde«. Sabine Fellner, von der das Ausstellungskonzept stammt, erläutert in neun kurzen Kapiteln die beispielhaft ausgewählten Künstler in ihren Wirkungs-Zeiten. Instruktiv wird die Bedeutung von provokativer Kunst deutlich, liest man zu welcher Reaktion sich ein Teil des Publikums und der Öffentlichkeit jeweils gezwungen sah. Auch die Funktion der Medien bei der Erzeugung von Stimmungen bereits vor hundert Jahren ist retrospektiv erhellend. Herbert Lachmayer erläutert so kurz wie prägnant, dass es sich bei den Avantgardisten eigentlich primär um individuelle Lebensentwurf-Künstler handelte. Der Hass, der ihnen zum Teil in der Kritik entgegenschlug, ist nicht von ihnen ausgegangen. Abgerundet wird der großformatige Band durch eine Schilderung des Verhältnisses des Rechtes zur Kunst, das durch eine deutliche Erhöhung der Toleranz in den vergangenen Jahrzehnten gekennzeichnet ist.

Die präsentierten Künstler waren Störenfriede. Sie dienten dazu, dass die Gesellschaft sich abgrenzen konnte. Sie konnte Grenzen ziehen, sie wurde in die Lage versetzt sich zu definieren. Dazu dienten Störenfriede, Exzentriker, Dandys, Punks zu allen Zeiten: Sie erweisen dem Gemeinwesen einen ungeheuren Dienst. Durch den Katalog wird die herausragende Funktion des provozierenden Elementes in der Kunst sichtbar gemacht. Das Buch ist somit wesentlich mehr als ein Begleiter der Ausstellung. Seine Bedeutung als kleines Vademecum der österreichischen Avantgarde bleibt bestehen - auch nach Ablauf der Linzer Ausstellung.

geschrieben am 24.09.2008 | 750 Wörter | 4830 Zeichen

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