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Schnöde Kunststücke gefallener Geister


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Rezension von

Kristina Scherer

Schnöde Kunststücke gefallener Geister Möchte man das literarische Werk eines Autors analysieren, liefert meist der zeitgenössische Kontext aufschlussreiche Zusammenhänge. So ist es insbesondere auch bei E.T.A. Hoffmann. In der vorliegenden Dissertation untersucht die Germanistin Henriett Lindner die Einflüsse der zeitgenössischen Psychologie – zu Lebzeiten des Dichters, Zeichners und Musikers Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822) als „Seelenkunde“ bezeichnet – auf das literarische Lebenswerk des Spätromantikers. Wie häufig angenommen geht Lindner davon aus, dass Hoffmann seine psychologischen Kenntnisse ganz bewusst zu Literatur verarbeitet hat. Das 352 Seiten umfassende wissenschaftliche Werk ist in drei umfangreiche Themenkomplexe unterteilt. Nachdem in der Einleitung die gewählte Methode und der aktuelle Stand der Hoffmann-Forschung dargelegt wurden, folgen Überlegungen zum psychologischen wie anthropologischen Diskurs um 1800. Zu Lebzeiten des Meisters des Unheimlichen begann man, seelische Leiden als echte Krankheiten anzusehen und Heilverfahren zu entwickeln. Psychisch erkrankte Menschen wurden nicht mehr wie Kriminelle behandelt. Der renommierte Irrenarzt Philippe Pinel, Leiter der Anstalt zu Bicệtre, befreite seine Patienten 1794 erstmals von den Ketten. E.T.A. Hoffmann selbst besaß gute Kenntnisse der psychiatrischen Medizin, was spätestens seit Paul Suchers Quellenrecherchen nachgewiesen ist. Sein Verleger gewährte ihm Zugang zur Fachliteratur. Während seiner Bamberger Zeit verband ihn außerdem eine Freundschaft zu den Nervenärzten Adalbert Friedrich Marcus sowie Franz Speyer, der die medizinischen Ausführungen in Hoffmanns Erzählung „Der Magnetiseur“ beurteilte. Es existieren zwei Schriften, die den Autor bei der Konzeption von psychiatrischen Phänomenen wie etwa den Wahnvorstellungen maßgeblich beeinflusst haben: die „Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie“ aus der Feder von Philippe Pinel (1801) und Johann Christian Reils „Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung“ (1803), die auszugsweise behandelt werden. In diesem ersten großen Themenkomplex werden außerdem die Thesen Gotthilf Heinrich Schuberts, Johann Gottfried Herders sowie naturphilosophische und magische Theorien behandelt. In dem zweiten Kapitel setzt sich Henriett Lindner mit der Biographie E.T.A. Hoffmanns auseinander. Dies ist notwendig, um Fakten und Hypothesen zu seinen Kenntnissen der Psychologie liefern zu können. Es wird deutlich, dass zwischen dem zerrissenen Charakter des Autors und seinen Protagonisten erstaunliche Parallelen existieren. Der Spätromantiker sah sich genau wie seine literarischen Figuren stets der Gefahr ausgesetzt, wahnsinnig zu werden. In Bezug auf das Verständnis seiner Wahnsinnsdarstellungen, so Lindner, verfüge Hoffmann über zwei Vorteile gegenüber dem Leser: „Er hat gleichzeitig den Blick eines Wahnsinnigen [...] und [...] den psychiatrisch geschulten Blick eines Außenstehenden.“ Beide Sichtweisen nutzte er, um in seiner Literatur zwischen objektiver und subjektiver Perspektive zu wechseln und den Rätselcharakter seiner Werke zu erhöhen. Dem biographischen Zugang folgen Interpretationsbrücken zu den zentralen Texten des Schriftstellers, welche vor dem Hintergrund des psychologischen Diskurses typische Merkmale seiner Prosa aufzeigen. Die thematisch spezialisierten Interpretationen nehmen rund 2/3 des Buches ein. Es werden die Werke „Ritter Gluck“, „Der Magnetiseur“, „Das öde Haus“, „Die Elixiere des Teufels“, „Klein Zaches genannt Zinnober“, „Prinzessin Brambilla“ sowie die beiden Haupttexte zu der psychoanalytischen Interpretation – das Märchen „Der goldene Topf“ und das Nachtstück „Der Sandmann“ – behandelt. Insbesondere der Protagonist letzterer Erzählung weist weitreichende Parallelen zu Disposition und Symptomatik des Wahnsinns auf, die Reil in den „Rhapsodien“ beschrieben hat. Berücksichtigt der Leser die zeitgenössische psychiatrische Diskussion, so wird der „Sandmann“ – um es mit Freud zu sagen – als eine reale Krankengeschichte nachvollziehbar– wobei man bedenken muss, dass sich Hoffmann einer verbindlichen Deutung entzieht und \"Der Sandmann\" unterschiedliche Interpretationen geradezu erzwingt. Im Fazit führt Lindner die Bedeutung des Psychologischen in der Literatur aus. Die dargelegte psychologische Deutung von E.T.A. Hoffmanns Werk ermöglicht ein besseres Verständnis seiner Texte und literarischen Figuren. Nicht zuletzt verschafft dieser Ansatz einen greifbaren Zugang zu der faszinierenden aber oft rätselhaften Hoffmannschen Ästhetik. „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“ sei all denjenigen empfohlen, die sich während ihres Studiums mit dem außergewöhnlichen Künstler E.T.A. Hoffmann, dem psychiatrischen Diskurs um 1800 oder dem Psychologischen in der Literatur auseinandersetzen möchten. Das Buch ist Pflichtlektüre für eine Seminar- oder Forschungsarbeit zu diesen Themen! Besonders positiv fallen außerdem der gute Schreibstil und der schlüssige Interpretationsvorgang auf, der bei Germanisten leider nicht selbstredend ist. Man ertappt sich zeitweilen dabei, die Abhandlung geradezu zu verschlingen, was vermutlich der gelungenen Mischung aus interessanter Thematik und schriftstellerischer Begabung der Autorin zu verdanken ist. „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“ lässt sich am besten über die Homepage des Verlags bestellen, da es bei den üblichen Internetanbietern derzeit nicht lieferbar ist: http://www.verlag-koenigshausen-neumann.de

Möchte man das literarische Werk eines Autors analysieren, liefert meist der zeitgenössische Kontext aufschlussreiche Zusammenhänge. So ist es insbesondere auch bei E.T.A. Hoffmann.

In der vorliegenden Dissertation untersucht die Germanistin Henriett Lindner die Einflüsse der zeitgenössischen Psychologie – zu Lebzeiten des Dichters, Zeichners und Musikers Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822) als „Seelenkunde“ bezeichnet – auf das literarische Lebenswerk des Spätromantikers. Wie häufig angenommen geht Lindner davon aus, dass Hoffmann seine psychologischen Kenntnisse ganz bewusst zu Literatur verarbeitet hat.

Das 352 Seiten umfassende wissenschaftliche Werk ist in drei umfangreiche Themenkomplexe unterteilt. Nachdem in der Einleitung die gewählte Methode und der aktuelle Stand der Hoffmann-Forschung dargelegt wurden, folgen Überlegungen zum psychologischen wie anthropologischen Diskurs um 1800. Zu Lebzeiten des Meisters des Unheimlichen begann man, seelische Leiden als echte Krankheiten anzusehen und Heilverfahren zu entwickeln. Psychisch erkrankte Menschen wurden nicht mehr wie Kriminelle behandelt. Der renommierte Irrenarzt Philippe Pinel, Leiter der Anstalt zu Bicệtre, befreite seine Patienten 1794 erstmals von den Ketten. E.T.A. Hoffmann selbst besaß gute Kenntnisse der psychiatrischen Medizin, was spätestens seit Paul Suchers Quellenrecherchen nachgewiesen ist. Sein Verleger gewährte ihm Zugang zur Fachliteratur. Während seiner Bamberger Zeit verband ihn außerdem eine Freundschaft zu den Nervenärzten Adalbert Friedrich Marcus sowie Franz Speyer, der die medizinischen Ausführungen in Hoffmanns Erzählung „Der Magnetiseur“ beurteilte. Es existieren zwei Schriften, die den Autor bei der Konzeption von psychiatrischen Phänomenen wie etwa den Wahnvorstellungen maßgeblich beeinflusst haben: die „Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie“ aus der Feder von Philippe Pinel (1801) und Johann Christian Reils „Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung“ (1803), die auszugsweise behandelt werden. In diesem ersten großen Themenkomplex werden außerdem die Thesen Gotthilf Heinrich Schuberts, Johann Gottfried Herders sowie naturphilosophische und magische Theorien behandelt.

In dem zweiten Kapitel setzt sich Henriett Lindner mit der Biographie E.T.A. Hoffmanns auseinander. Dies ist notwendig, um Fakten und Hypothesen zu seinen Kenntnissen der Psychologie liefern zu können. Es wird deutlich, dass zwischen dem zerrissenen Charakter des Autors und seinen Protagonisten erstaunliche Parallelen existieren. Der Spätromantiker sah sich genau wie seine literarischen Figuren stets der Gefahr ausgesetzt, wahnsinnig zu werden. In Bezug auf das Verständnis seiner Wahnsinnsdarstellungen, so Lindner, verfüge Hoffmann über zwei Vorteile gegenüber dem Leser: „Er hat gleichzeitig den Blick eines Wahnsinnigen [...] und [...] den psychiatrisch geschulten Blick eines Außenstehenden.“ Beide Sichtweisen nutzte er, um in seiner Literatur zwischen objektiver und subjektiver Perspektive zu wechseln und den Rätselcharakter seiner Werke zu erhöhen.

Dem biographischen Zugang folgen Interpretationsbrücken zu den zentralen Texten des Schriftstellers, welche vor dem Hintergrund des psychologischen Diskurses typische Merkmale seiner Prosa aufzeigen. Die thematisch spezialisierten Interpretationen nehmen rund 2/3 des Buches ein. Es werden die Werke „Ritter Gluck“, „Der Magnetiseur“, „Das öde Haus“, „Die Elixiere des Teufels“, „Klein Zaches genannt Zinnober“, „Prinzessin Brambilla“ sowie die beiden Haupttexte zu der psychoanalytischen Interpretation – das Märchen „Der goldene Topf“ und das Nachtstück „Der Sandmann“ – behandelt. Insbesondere der Protagonist letzterer Erzählung weist weitreichende Parallelen zu Disposition und Symptomatik des Wahnsinns auf, die Reil in den „Rhapsodien“ beschrieben hat. Berücksichtigt der Leser die zeitgenössische psychiatrische Diskussion, so wird der „Sandmann“ – um es mit Freud zu sagen – als eine reale Krankengeschichte nachvollziehbar– wobei man bedenken muss, dass sich Hoffmann einer verbindlichen Deutung entzieht und \"Der Sandmann\" unterschiedliche Interpretationen geradezu erzwingt. Im Fazit führt Lindner die Bedeutung des Psychologischen in der Literatur aus.

Die dargelegte psychologische Deutung von E.T.A. Hoffmanns Werk ermöglicht ein besseres Verständnis seiner Texte und literarischen Figuren. Nicht zuletzt verschafft dieser Ansatz einen greifbaren Zugang zu der faszinierenden aber oft rätselhaften Hoffmannschen Ästhetik.

„Schnöde Kunststücke gefallener Geister“ sei all denjenigen empfohlen, die sich während ihres Studiums mit dem außergewöhnlichen Künstler E.T.A. Hoffmann, dem psychiatrischen Diskurs um 1800 oder dem Psychologischen in der Literatur auseinandersetzen möchten. Das Buch ist Pflichtlektüre für eine Seminar- oder Forschungsarbeit zu diesen Themen!

Besonders positiv fallen außerdem der gute Schreibstil und der schlüssige Interpretationsvorgang auf, der bei Germanisten leider nicht selbstredend ist. Man ertappt sich zeitweilen dabei, die Abhandlung geradezu zu verschlingen, was vermutlich der gelungenen Mischung aus interessanter Thematik und schriftstellerischer Begabung der Autorin zu verdanken ist.

„Schnöde Kunststücke gefallener Geister“ lässt sich am besten über die Homepage des Verlags bestellen, da es bei den üblichen Internetanbietern derzeit nicht lieferbar ist: http://www.verlag-koenigshausen-neumann.de

geschrieben am 30.09.2009 | 696 Wörter | 4948 Zeichen

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