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Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert.


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Der Vagabund ist eine Reaktion auf die Zerstörung romantischer Glücksvorstellungen durch die Moderne. »Der Siegeszug des Bürgertums vollzog sich so beharrlich und stetig, dass, wer immer jenes Glücksversprechen nicht resignativ verabschieden wollte, seine Allianzen mit den Gegnern des Bürgers zu schmieden hatte. Wie unversöhnlich diese auch zueinander standen«, schreiben die Herausgeber eines hochkarätigen Sammelbandes »zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert«. Jeweils ein Literaturwissenschaftler widmet sich einem oder mehreren deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts wie Georg Simmel und Walter Benjamin, Franz Hessel, Franz Kafka, Walter Serner, Joseph Roth, Ernst Jünger, Thomas Bernhard und anderen. Den hier untersuchten Vagabundierenden unterscheidet vom seinen zeitlichen Vorgängern, dem bürgerlichen Spaziergänger und dem Wanderer der Romantik, die Ablehnung der nivellierenden und kontrollsüchtigen Moderne. Die Herausgeber Hans Richard Brittnacher und Magnus Klaue nennen es poetologisch die »Erfahrung von archaischer Gewalt«. Weggefährten des Vagabunden sind vor allen der Dandy, der Bohemien, der Tramp, der Sponti, auch der Punk. Zu allererst natürlich der Flaneur. Der Fremdwörter-Duden übersetzt Flanieren mit Müßiggang, was allenfalls als bildliche Metapher dienen kann. Das Flanieren ist quasi ein müßiggängerisches Wandeln, zu dem allerdings noch eine intensive Wahrnehmung des Ortes hinzukommt. Was den Flaneur so eng an den Dandy heranrückt, ist die ästhetische Distanz zur äußeren Welt, zur Erscheinungswelt. Die Erfahrungen in der sich vermassenden Gesellschaft von Marginalisierung und permanenter Gefahr von Ich-Verlust teilen die genannten Sozialcharaktere. Doch bleibt der Flaneur quasi noch im Bürgertum verhaftet, als letzter Bürger wird er in der instruktiven Einführung bezeichnet. Beim Vagabund hat es eine andere Wirkung: Er überholt den Flaneur und sucht sein Seelenheil außerhalb der bürgerlichen Ordnung. Dies in seinem Gebaren wie durchaus geographisch. Wer denkt beim Wort Flaneur nicht sofort an Franz Hessels schöne Schilderungen seiner Flanerie durch das Berlin der 1920er Jahre. Ute Beiküfner arbeitet in ihrem Aufsatz den tiefen Konservatismus heraus, der Hessel zu seinen Bildungsgängen motivierte. Seine Textsammlung hieß ursprünglich »Spazieren in Berlin«, entstand zwischen 1927 und 1929 und wurde vom damaligen Berliner Bürgermeister angeregt. Den Begriff des Flaneurs bekam Hessel von einem anderen sensiblen Berliner Stadt-Seher aufgepropft: von Walter Benjamin. Hessels Schilderungen sind getragen vom Bemühen um historische Erinnerung. Und vom Bemühen um Grenzziehung, um eine Heimat überhaupt qualifizieren zu können. Eine Grenzziehung, die Europa in Gefahr ist, zu verlieren. Hessel beschreibt die Stadt und deren Kieze als geographische wie ästhetische Einheits-Erfahrung. Es ist das substantielle Verständnis der Magie von Orten. Man ist gewillt, sich den Hessel wieder einmal zur Hand zu nehmen. Die in Vietnam geborene Autorin Phuong Duong beschäftigt sich mit dem »heroischen Eskapismus« Ernst Jüngers. Treffend stellt sie fest, Jüngers vitalistische und anarchistische Ausbrüche aus dem Bürgerlichen, diese lebenslange Sehnsucht nach einem essentiell freien Dasein, seien einer »zutiefst romantische[n] Gefühlswelt« entsprungen. Ihr Resümee kann indes nicht so recht befriedigen: »Die Jüngerschen Helden sind auf ihren Reisen weit gekommen, zeigen aber kein Interesse an ihrer Umgebung. Oft bleiben sie statische Charaktere, die sich zu sehr mit ‚innerer Gesundheit’ und Vitalität beschäftigen, als dass sie sich einer transitspezifischen Verletzlichkeit aussetzen würden. Ihnen fehlt die Sensibilität, um mentalitätsbedingte Regeln und Kategorien zu hinterfragen.« Das ist zu flach und pauschal, scheint es häufig gerade die Überfülle an Eindrücken zu sein, die Jünger und sein jeweiliges Alterego versuchen lässt, von der Position des Involvierten immer stärker zum Beobachter zu werden. Jüngers »Désinvolture« hätte hier problematisiert werden können. Und natürlich Jünger als Dandy, der aufgrund seiner Über-Sensibilität in Masken schlüpft. Der Auslöser des Dandydaseins ist die Idiosynkrasie, eine Überempfindlichkeit vor der Ungerechtigkeit und Hässlichkeit der Welt. So sagte Jünger als greiser Mann, sein größter Fehler sei nicht gewesen, dass er sich als Nationalist, sondern, dass er sich überhaupt an der Politik beteiligt habe. Als letztes Beispiel dieses intelligenten Bandes sei der Aufsatz von Klaus Bartels über Christian Kracht erwähnt. Der Hamburger Hochschullehrer sieht den bekanntesten der Pop-Literaten als Third Culture Kid (TCK). Das sind Kinder häufig umziehender Eltern mit hohem Einkommen, in der Regel international tätige Manager oder Diplomaten. Die Kinder wachsen polykulturell auf, was nicht nur positive Folgen wie Mehrsprachigkeit und kulturelle Bildung mit sich bringe. Bartels zitiert Wissenschaftler, die bei diesen Kindern mit jedem neuen Umzug einen weiteren Kulturschock manifestiert sehen. Im Werk Krachts ist das nicht schwer festzustellen. Seine Figuren sprechen von Heimatlosigkeit und damit Hoffnungslosigkeit und einer tiefen kulturellen Orientierungslosigkeit. Mit dem Begriff des Dandys geht der Literaturwissenschaftler indes zu flachs um. Er geht seinem Untersuchungsobjekt auf den Leim, übernimmt von Kracht unkritisch Begriffe wie »Hippie-Dandy« und - noch kurioser - »Penner-Dandy«. Begriffe, die über sich selbst stolpern. Aber vielleicht tut der Vagabund das ja auch irgendwann.

Der Vagabund ist eine Reaktion auf die Zerstörung romantischer Glücksvorstellungen durch die Moderne. »Der Siegeszug des Bürgertums vollzog sich so beharrlich und stetig, dass, wer immer jenes Glücksversprechen nicht resignativ verabschieden wollte, seine Allianzen mit den Gegnern des Bürgers zu schmieden hatte. Wie unversöhnlich diese auch zueinander standen«, schreiben die Herausgeber eines hochkarätigen Sammelbandes »zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert«.

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Jeweils ein Literaturwissenschaftler widmet sich einem oder mehreren deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts wie Georg Simmel und Walter Benjamin, Franz Hessel, Franz Kafka, Walter Serner, Joseph Roth, Ernst Jünger, Thomas Bernhard und anderen. Den hier untersuchten Vagabundierenden unterscheidet vom seinen zeitlichen Vorgängern, dem bürgerlichen Spaziergänger und dem Wanderer der Romantik, die Ablehnung der nivellierenden und kontrollsüchtigen Moderne. Die Herausgeber Hans Richard Brittnacher und Magnus Klaue nennen es poetologisch die »Erfahrung von archaischer Gewalt«. Weggefährten des Vagabunden sind vor allen der Dandy, der Bohemien, der Tramp, der Sponti, auch der Punk. Zu allererst natürlich der Flaneur. Der Fremdwörter-Duden übersetzt Flanieren mit Müßiggang, was allenfalls als bildliche Metapher dienen kann. Das Flanieren ist quasi ein müßiggängerisches Wandeln, zu dem allerdings noch eine intensive Wahrnehmung des Ortes hinzukommt. Was den Flaneur so eng an den Dandy heranrückt, ist die ästhetische Distanz zur äußeren Welt, zur Erscheinungswelt. Die Erfahrungen in der sich vermassenden Gesellschaft von Marginalisierung und permanenter Gefahr von Ich-Verlust teilen die genannten Sozialcharaktere. Doch bleibt der Flaneur quasi noch im Bürgertum verhaftet, als letzter Bürger wird er in der instruktiven Einführung bezeichnet. Beim Vagabund hat es eine andere Wirkung: Er überholt den Flaneur und sucht sein Seelenheil außerhalb der bürgerlichen Ordnung. Dies in seinem Gebaren wie durchaus geographisch.

Wer denkt beim Wort Flaneur nicht sofort an Franz Hessels schöne Schilderungen seiner Flanerie durch das Berlin der 1920er Jahre. Ute Beiküfner arbeitet in ihrem Aufsatz den tiefen Konservatismus heraus, der Hessel zu seinen Bildungsgängen motivierte. Seine Textsammlung hieß ursprünglich »Spazieren in Berlin«, entstand zwischen 1927 und 1929 und wurde vom damaligen Berliner Bürgermeister angeregt. Den Begriff des Flaneurs bekam Hessel von einem anderen sensiblen Berliner Stadt-Seher aufgepropft: von Walter Benjamin. Hessels Schilderungen sind getragen vom Bemühen um historische Erinnerung. Und vom Bemühen um Grenzziehung, um eine Heimat überhaupt qualifizieren zu können. Eine Grenzziehung, die Europa in Gefahr ist, zu verlieren. Hessel beschreibt die Stadt und deren Kieze als geographische wie ästhetische Einheits-Erfahrung. Es ist das substantielle Verständnis der Magie von Orten. Man ist gewillt, sich den Hessel wieder einmal zur Hand zu nehmen.

Die in Vietnam geborene Autorin Phuong Duong beschäftigt sich mit dem »heroischen Eskapismus« Ernst Jüngers. Treffend stellt sie fest, Jüngers vitalistische und anarchistische Ausbrüche aus dem Bürgerlichen, diese lebenslange Sehnsucht nach einem essentiell freien Dasein, seien einer »zutiefst romantische[n] Gefühlswelt« entsprungen. Ihr Resümee kann indes nicht so recht befriedigen: »Die Jüngerschen Helden sind auf ihren Reisen weit gekommen, zeigen aber kein Interesse an ihrer Umgebung. Oft bleiben sie statische Charaktere, die sich zu sehr mit ‚innerer Gesundheit’ und Vitalität beschäftigen, als dass sie sich einer transitspezifischen Verletzlichkeit aussetzen würden. Ihnen fehlt die Sensibilität, um mentalitätsbedingte Regeln und Kategorien zu hinterfragen.« Das ist zu flach und pauschal, scheint es häufig gerade die Überfülle an Eindrücken zu sein, die Jünger und sein jeweiliges Alterego versuchen lässt, von der Position des Involvierten immer stärker zum Beobachter zu werden. Jüngers »Désinvolture« hätte hier problematisiert werden können. Und natürlich Jünger als Dandy, der aufgrund seiner Über-Sensibilität in Masken schlüpft. Der Auslöser des Dandydaseins ist die Idiosynkrasie, eine Überempfindlichkeit vor der Ungerechtigkeit und Hässlichkeit der Welt. So sagte Jünger als greiser Mann, sein größter Fehler sei nicht gewesen, dass er sich als Nationalist, sondern, dass er sich überhaupt an der Politik beteiligt habe.

Als letztes Beispiel dieses intelligenten Bandes sei der Aufsatz von Klaus Bartels über Christian Kracht erwähnt. Der Hamburger Hochschullehrer sieht den bekanntesten der Pop-Literaten als Third Culture Kid (TCK). Das sind Kinder häufig umziehender Eltern mit hohem Einkommen, in der Regel international tätige Manager oder Diplomaten. Die Kinder wachsen polykulturell auf, was nicht nur positive Folgen wie Mehrsprachigkeit und kulturelle Bildung mit sich bringe. Bartels zitiert Wissenschaftler, die bei diesen Kindern mit jedem neuen Umzug einen weiteren Kulturschock manifestiert sehen. Im Werk Krachts ist das nicht schwer festzustellen. Seine Figuren sprechen von Heimatlosigkeit und damit Hoffnungslosigkeit und einer tiefen kulturellen Orientierungslosigkeit. Mit dem Begriff des Dandys geht der Literaturwissenschaftler indes zu flachs um. Er geht seinem Untersuchungsobjekt auf den Leim, übernimmt von Kracht unkritisch Begriffe wie »Hippie-Dandy« und - noch kurioser - »Penner-Dandy«. Begriffe, die über sich selbst stolpern. Aber vielleicht tut der Vagabund das ja auch irgendwann.

geschrieben am 15.10.2008 | 744 Wörter | 4880 Zeichen

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