
| ISBN | 3412202428 | |
| Autor | Annette Geiger | |
| Verlag | Böhlau | |
| Sprache | deutsch | |
| Seiten | 286 | |
| Erscheinungsjahr | 2008 | |
| Extras | - |

Vor 1750 war die Öffentlichkeit ein Raum, den man ausschließlich mit Maske und Kostüm betrat. Die Menschen wussten zu unterscheiden zwischen ihrem Auftritt in der Allgemeinheit – und ihrem Ich. Man spielte eine Rolle und wusste dies auch. Das ist eine der Kernthesen des US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett. Dieses Maskenspiel war eine Pflicht. Jedoch keine leidige. Denn die Menschen genossen den umfassenden und entspannenden Schutz, den diese über Jahrhunderte gewachsene Regel ihnen gewährte.

Das ist nun vorbei. Heute sitzen Menschen im TV-Studio bei Sendungen wie »Nichts als die Wahrheit« und lassen sich gegen Cash die intimsten Geheimnisse entlocken. Da hockt die Partnerin fünf Meter entfernt und der Studiogast sagt, ob er während der Beziehung fremdgegangen ist, ob er seine Freundin attraktiv findet oder Damenunterwäsche trägt. All das traut er sich nicht, mit ihr zu besprechen. Millionen Fernsehzuschauer aber geben den Kick, darüber zum ersten Mal zu reden. Digitaler Seelenstriptease.
Es ist diese »Tyrannei der Intimität« (Richard Sennett), die den kulturhistorischen Spannungsbogen liefert, den der Sammelband »Der schöne Körper« aufgreift. Nach Sennetts Auffassung waren Ursachen dieser anthropologischen Veränderung durch die Moderne die freie Verfügbarkeit der Masken durch die Industrialisierung, die Massenmedien und die Demokratisierung aller Lebensbereiche. Das von Annette Geiger herausgegebene Buch widmet sich der ambivalenten Rolle der Mode. Einerseits drückt Mode gesellschaftliche Abhängigkeiten und Normierungen aus. Andererseits ist sie Spiegel von individueller und autonomer Selbstwahrnehmung.
Ihrer Einführung »Die Klugheit des Schönen – Mode als Methode« stellt Annette Geiger ein Zitat von Montaigne voran, der bereits das Problem erkannt hatte. Was ist eigentlich schön? »Was schließlich die körperliche Schönheit betrifft, müsste ich, bevor ich fortfahre, klären, ob wir uns über diesen Begriff einigen. Vermutlich wissen wir nämlich gar nicht recht, was Schönheit ist, denn wir verleihen unserer menschlichen verschiedenste Gestalten. Gäbe es dafür einen natürlichen Begriff, würden wir ihn alle als verbindlich anerkennen, wie etwa den der Feuerhitze«, wusste der französische Essayist genauso viel wie wir heute. Die Kulturwissenschaftlerin stellt fest, »Mode und Schönheitshandeln […] bilden stets eine Simulation«, die auf kulturelle Codierungen zurückgreife, die sich nicht aus der Natur ableiten ließen.
Ihre Behauptung allerdings, es fehle »an Überlegungen zu Mode und Kosmetik als eigenständiger kultureller Praxis«, konterkariert sie selbst, - indem sie die wichtigsten selbst zitiert und von ihnen den roten Faden ihrer Argumentation ableitet. Neben bereits genanntem Sennett sind das vor allem die Überlegungen von Roland Barthes (»Die Sprache der Mode«) und von Georg Simmel »Die Mode«.
Dennoch ist das Buch anregend und nicht zuletzt aufgrund seiner profunden Fülle der Sichtweisen und Themenbereiche eine Bereicherung der Literatur zur Bedeutung von Mode und Kosmetik. Emblematisch verdeutlichen die unzähligen Beispiele und Geschichten, dass die jeweilige Mode ein spezieller Spiegel und Ausweis von Zeit und Zeitgeist ist. Was, so ausgesprochen, banal klingt, liest sich im Konkreten fesselnd und horizonterweiternd. Wer weiß heute noch, dass der erste Lippenstift von den Brüdern Lumière 1883 auf der Weltausstellung in Amsterdam unter dem Namen »Zauberstab des Eros« vorgestellt wurde. Ihn zu benutzen, hatte damals durchaus etwas Anarchisch-Verruchtes. Nicht von ungefähr bestand Sarah Bernhardt darauf, stets einen in ihrer Nähe zu wissen.
Der Anspruch des Bandes ist kein bescheidener. Er will »das Schönheitshandeln neu bewerten«. Dazu untersuchen die Autoren Schönheits-Perzeptionen und –Codierungen aus kunst-, kulturwissenschaftlicher, soziologischer und ethnologischer Perspektive. Insgesamt ein gutes Dutzend Beiträge geht den Facetten des Äußerlichen nach. Die Farbe in der Geschichte der Kosmetik, die Erotik in christlichen Heiligenbildern, die Tradition der weiblichen Tätowierung oder ob sich Nonnen schminken dürfen sind einige der Themen. Laura Bieger widmet sich der »modernen Wunschökonomie der Anerkennung«: Sie konstatiert, der moderne »Körper als paradoxer Ort von virtueller Gleichheit und praktischer Pflicht zur Selbstgestaltung« müsse sich Anforderungen stellen, »die im 20. Jahrhundert immer imperativer und engmaschiger« geworden seien. Die Juniorprofessorin für Amerikanistik betont, die von ihr skizzierte Ökonomie einer sich wechselseitig bedingenden Produktion von eigenen Selbstbildern und von außen oktroyierten Körperbildern sei engstens verwoben mit der Logik des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Das feinstimmige Ineinandergreifen von technologischer Entwicklung und deren gewinnmaximalem Einsatz operierten innerhalb der Marktlogik. »Der schöne Körper und sein wirkungsvolles Ins-Bild-Setzen werden auf immer forderndere Weise zum materiellen und doch zunehmend leeren Träger von Selbstwert.«
geschrieben am 29.10.2008 | 675 Wörter | 4429 Zeichen
Kommentare zur Rezension (0)
Platz für Anregungen und Ergänzungen